Venedig 2024

Das Abenteuer beginnt. Ich sitze im Nachtzug nach Venedig und fühle mich jung – die Frage, die mich kürzlich an meinem Geburtstag beschäftigte, „bin ich 70 oder 80“, kommt nicht auf. Ich fühle mich einfach gut. Unsere Tochter Pina hat dise Reise nicht nur geplant und organisiert, sondern begleitet auch uns beiden Alten, Tano und mich, auf unserem vierten Besuch der Biennale!

Im Hotel, einem a&o Hostel in Mestre, eher einer Jugendherberge, wurde Tano an der Rezeption als ehemaliger Gast erkannt. Nach dem Einchecken und dem noch immer spürbaren Ruckeln des Zuges in den Ohren fuhren wir mit dem Bus nach Venedig. Eingezwängt, schwankend, rumpelnd – wie schon in den vergangenen Jahren – erreichten wir Venedig in nur einer halben Stunde. Besonders gefiel mir, dass Tano auch bei den kommenden Fahrten sofort höflich einen Sitzplatz angeboten bekam, was für uns nicht selbstverständlich ist. Sogar in den Schiffen waren Plätze speziell für Über-80-Jährige ausgewiesen, zum ersten Mal auch für mich, da ich gerade 80 geworden bin.

Am Tag unserer Ankunft besuchten wir das Peggy Guggenheim Museum mit Werken von Künstlern, die mich schon in meiner Jugend begeisterten. Viele Künstlernamen und Gemälde waren mir vertraut. Der Bronzelöwe von Mirko (Basaldella) im Garten war mir früher nicht aufgefallen; Peggy Guggenheim kaufte ihn auf der Biennale 1954, wie ich im Internet las. Auf meinen Wunsch hin ließ sich Tano für ein Foto auf dem Steinthron nieder.

Für die nächsten zwei Tage stand die Biennale auf dem Programm. Das Thema der Ausstellung lautete „Foreigners Everywhere – Stranieri Ovunque“. Ich zitiere hier Adriano Pedrosa, der das Thema der Biennale erklärt: „Künstler sind immer gereist und haben Städte, Länder und Kontinente durchquert. Im Mittelpunkt der Biennale Arte 2024 stehen daher Künstler, die selbst Ausländer, Immigranten, Expatriates, Diasporiker, Emigranten, Exilanten oder Flüchtlinge sind.“

Giardini:

Arsenale:

Was ich alles gesehen habe, muss ich noch verarbeiten und nachlesen. Manches werde ich nicht herausfinden und leider auch vergessen, wie so manches von unseren früheren Besuchen der Biennale.

Einen Tag, den letzten, hatten wir zur freien Verfügung. Wir besuchten die Ausstellungen der Amerikanerin Julie Mehretu im Palazzo Grassi und die Schau von Pierre Huyghe in Punta della Dogana.

Julie Mehretu, so alt wie Pina, wurde in Addis Abeba, Äthiopien, geboren und floh mit ihren Eltern im Alter von 7 Jahren nach Michigan. Seit 1999 lebt und arbeitet Julie Mehretu in New York, wo sie ihr Atelier mit ihrer Partnerin Jessica Rankin teilt. Ihre wandgroßen Bilder sehen wie riesige Landkarten aus, zusammengewürfelt mit Straßenkarten, Flug-, Zug- und Schiffsplänen, Wetterkarten und Telefonnummern – so groß, dass sie wahrscheinlich eine ganze Mannschaft von Helfern benötigt. Nicht leicht wird es für die Künstlerin sein, ihre großen Bilder auszustellen, wie im wunderschönen Palazzo Grassi mit seinen vielen Räumen.

Auch Pierre Huyghe benötigt große Flächen für seine Ausstellung. Ich las, dass Pierre Huyghe einer der bekanntesten Künstler Frankreichs ist. Im Jahr 2001 erhielt er den Spezialpreis der Jury für den Französischen Pavillon auf der Biennale in Venedig. Nun bespielt er in Venedig die Punta della Dogana. Anfangs fühlte ich mich in der Dunkelheit der Räume unsicher, besonders mit den Kreaturen zwischen Mensch, Tier und Maschine. Ich versuche immer noch zu verstehen, was er aussagen will. Vielleicht komme ich noch darauf.

Für das Essen blieb uns am wenigsten Zeit. Wir frühstückten an einem Stand am Supermarkt bei recht zuvorkommenden jungen Männern chinesischer Herkunft. Abends besorgte Tano uns italienische Spezialitäten, die wir draußen vor unserem Hostel genossen. Geplante Spaziergänge ließen wir, todmüde, ausfallen. Nur einmal beendeten wir den Tag mit einer Tüte Eis von der Eisdiele.

Jetzt wieder zu Hause, habe ich zeitlang nach Pina, finde ich mich nach einem Tag immer noch nicht richtig zurecht. Mein erster Weg führte mich durch meinen Garten und mein zweiter hinunter in den Keller. Ich holte einen Hubel Ton, der steinhart in Folie eingetrocknet war. Nach einem Schuss Wasser in den Beutel stellte ich ihn in die Regentonne und hoffe nun, dass der Ton wieder formbar wird. Ideen, noch nicht ganz ausgereift, habe ich bereits.

58. Biennale Venedig 2019

Die letzte Biennale 2017 fiel für mich leider ins Wasser. Ich habe mich jetzt wieder hoch gestrampelt und so konnten Tano und ich uns heuer auf den Weg nach Venedig machen. Diesmal ganz umweltfreundlich, mit dem österreichischen Nachtzug München-Venedig.

Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, die Stadt zu besuchen, da die Masse von Touristen für die Venediger eine Belastung ist. Aber ohne uns wäre es auch nicht gut. An den Orten, wo wir waren, gab es kein Gedränge.

Während Tano sich für die Eintrittskarten zur Biennale anstellte, setzte ich mich auf eine frischgestrichene rote Bank. Mit der Hand fühlte sie sich trocken an. Trotzdem lief ich dann den ganzen Tag als wanderndes Kunstwerk mit rotem Hinterteil umher.

Als gutes Omen deutete ich die lichte Wolke, die über dem italienischen Pavillon schwebte, erzeugt durch eine Nebelmaschine. Schrieben doch die Zeitungen, dass bei der Eröffnungsfeier die grauen feuchten Nebelschwaden bis ins Innere des Hauses zogen.

Leichten Fußes begannen wir unseren Rundgang durch einen engen Korridor. Grelles Licht blendete uns. So weiß, dass es schmerzte. Im Laufschritt durchquerten wir den Lichtschacht hin zu einer knienden zwei Meter hohen Terrakottamadonna. Ihre Hände lagen abgehackt am Boden. Was dann eine Mauer mit Stacheldraht und Schusslöcher aussagen sollte, war deutlich. Ebenso eine Installation mit Steinen aus einem Atomkraftwerk.

Keramikmasken an der Wand sahen so aus, wie meine Tonarbeiten unbearbeitet.

Eher ein Spektakel war für mich der Roboter, der ständig versuchte, mit einem Greifarm blutfarbige Flüssigkeit in die Mitte zu wischen. Dabei verschüttete er erneut die Farbbrühe. Erinnerte mich sofort an meinen Haushalt, kaum aufgeräumt, entsteht am anderen Ende wieder Unordnung.

Lustig sahen die fleißigen Arbeiter im belgischen Pavillon aus. Lebensgroße mechanische Puppen, in folkloristischer Tracht, kochten, malten, musizierten. Überall surrte und schnurrte es. Erst später sah ich in den Seitenräumen, abgesperrt hinter Gittern, die Figuren der Kranken, Armen und Flüchtlinge. Sie waren die Zuschauer.

Der nordische Pavillon gefiel mir immer schon. Mitten im Raum wachsen meterhohe Bäume durch das Dach. Ton in Ton war diesmal die Ausstattung. Die Farbe des Boden wiederholte sich in den Installationen mit Pflanzen, Algen und Steinen. Ich konnte es nicht lassen, mit einem Finger einen Stein zu berühren. Ich wurde mit Recht gleich ermahnt. Aber ich wusste jetzt, dass sie aus Sand geformt waren. Sand in Nylon gepackt, las ich später.

Nachdem wir fast in allen Pavillons waren, suchten wir erschöpft die Ecke mit den Liegestühlen. Diesmal lagen große, weiche Matten auf dem Boden. Sie waren noch unbesetzt. Nachdem wir die Schuhe ausgezogen hatten und uns darauf ausstreckten, erkannten auch andere Besucher, dass es keine Kunstinstallation war.

Wir waren wieder frisch und aufnahmebereit für die internationale Ausstellung in den Arsenalen zum Thema: „May you live in interesting times“. Allein die alten Hallen und das Wissen, dass dort vor Jahrhunderten für die Seeschlacht von Lepanto 100 Galeeren gebaut wurden, macht einem ehr(und)fürchtig.

Jetzt auf Anhieb erinnere ich mich nur noch an besondere Kunstwerke.

Das Bild „Double Elvis“ von George Condam am Eingang vergesse ich sicher nicht mehr. Riesengroß bis unter die Decke reichte es. Wahrscheinlich, weil es eine Antwort auf Andy Warhols gleichnamigen Siebdruck war.

Im Dachstuhl waren von der deutschen Installationskünstlerin Alexandra Bircken zusätzliche Balken und Leitern eingebaut, auf denen 40 schwarze Latexfiguren hingen. Kalt läuft es mir jetzt noch über den Rücken. Sie sahen aus wie vom Feuer geschrumpfte und geschmolzene Menschen.

Eine rießengroße Sitzende auf einem Flugzeugsitz, drapiert mit Stofffetzen in kauernder Haltung war auch erschreckend. Rote Plastikstühle mit drei Meter hohen wackeligen Stahlfüßen strahlten Unsicherheit aus. Ich komme mir vor, wie ein Kind, dass belehrt werden muss. Die Figur mit alten Kleiderfetzen, oder der Marmorthron der gepeitscht wird, kann ich vielleicht noch deuten, vieles aber nicht.

Indien war nach langer Pause, so las ich, auch wieder vertreten. Auf drei großen Flächen waren eng aneinander Holzschuhe angebracht; ideenreich und wunderschön kunsthandwerklich verziert. Ich suchte den für mich passenden Schuh aus, der nicht nur mein momentanes Empfinden wider gibt, sonder seit meiner Chemobehandlung das taube Gefühl der Füße bildlich zeigt. Ich fotografierte den Schuh.

Saudi Arabien war zum ersten Mal dabei. Wunderschöne, aus Leder geschnittene, durch Hitze geformte Gebilde, die an Seeigel und Muscheln erinnerten, waren zu einem riesigen Ornament zusammengeknüpft. Anerkennend ist, dass die Künstlerin eine Frau ist, die das Land präsentiert. Ich freute mich, dass ich ein dreisprachiges großes Buch geschenkt bekam. Wahrscheinlich betrachtete ich besonders interessiert die kunsthandwerklichen Arbeiten.

Noch ein Geschenk gab es bei der österreichischen Künstlerin Renate Bertlmann. Ein großes Plakat mit einem Foto einer Rollstuhlfahrerin. Buch und Rolle trug ich brav durch die Stadt. Das eingerollte Plakat überstand leider die Zugrückfahrt nur halb. Ich glaube, ich habe es beim Aussteigen in Tegernsee vergessen. Schade.

Den obligatorischen Bleistift als Andenken kaufte mir Tano, ohne zu Fragen, ob ich ihn möchte.