Venedig 2022

Tano und ich erlebten wunderschöne Tage in Venedig. Umgekehrt als früher organisierten diesmal die Kinder die Reise für uns. Sie bestellten den Nachtzug, suchten ein Hotel und waren auch in Venedig per Smartphone stets zu erreichen.

Die Biennale war unser Hauptziel. Für den ersten Tag nahmen wir uns die Giardini vor. Während Tano die Eintrittskarten kaufte, setzte ich mich auf die verwitterte Bank, auf der ich beim letzten Besuch vor Corona auch saß. Damals merkte ich nicht, dass sie frisch gestrichen war, und musste den ganzen Tag mit einem roten Abdruck auf meiner Hose durch die Giardini laufen.

Der Schweizer Pavillon, war der Erste, den wir besuchten. Die Bäume und das Gras im Vorgarten waren schwarz verbrannt und die Schotterkiesel am Boden knirschten unter den Sohlen. In den Innenräumen wurde es immer dunkler, am Schluss war es stockfinster. Nur langsam tasteten wir uns vorwärts. Im letzten Raum angekommen, blitzte rotglühend ein Riesenkopf auf.

Beklemmend war es dann auch im dänischen Haus. Ein riesiger Zentaur hing von der Decke und im Stall lag ein weiblicher Zentaur im Heu, scheinbar in den Wehen, denn aus dem Unterkörper ragte die Fruchtblase heraus. Alles war hyperrealistisch dargestellt. Jedes Haar konnte man erkennen.

Der venezolanische Pavillon mit den wunderschönen, fast naiven Bildern und Gegenständen gefiel mir besonders gut. Die Künstlerin war mir gleich sympathisch, sie war in meinem Alter.

Der Besuch im deutschen Pavillon war kurz. Ich hatte schon daheim viel darüber gelesen. Eigentlich wollten sie das ganze Gebäude entfernen und per Kran außerhalb des Geländes aufstellen.

Wir ließen uns viel Zeit. Wir wollten warten bis die Menschenschlange vor dem Hauptgebäude kürzer werden würde. So schlenderten wir von Pavillon zu Pavillon, vorbei am verschlossenen und bewachten russischen, schlüpften durchs Ohr ins brasilianische Haus rein und raus, und fotografierten den bewegten Meereshorizont im serbischen Haus.

Letztendlich stellten wir uns in die Menschenschlange, die leider nicht kürzer wurde, sondern inzwischen schon beim Gelände-Haupteingang endete.

Nun wurde die Zeit knapp. Im Schnelldurchgang durchquerten wir die einzelnen Kapseln. Etwas pausiert haben wir bei den Keramikarbeiten von Jana Euler. Auf einem Sockel standen 111 glasierte, zähnefletschende, stilisierte Haie mit dem Titel „great white fear“. Beängstigend fand ich sie nicht, eher die übergroße „Venedigfliege“ auf einem Bild daneben. Die Arbeiten von Paula Rego hielten mich auch auf. Ich konnte sie fast nicht ansehen. Es schien, als würde eine Mutter ihre Kinder fressen. Gluttony war der Titel.

Im Arsenal

Der zweite Tag im Arsenal war entspannender.

Ich war nicht die einzige, die an dem aus Erde gebauten Labyrinth roch. Angeblich war die Erde mit Zimt, Nelkenpulver und Kakao vermischt. Ich roch nichts, wahrscheinlich war der Duft schon verflogen.

Im Arsenal gab es auch noch viele Länderbeiträge. Wieder standen wir in der Schlange vor dem italienischen Pavillon. Als Tano und ich endlich vor der Eingangstür standen, durften wir nicht zusammen, sondern nur einzeln nach einer kurzen Wartezeit eintreten. Der Sinn erschloss sich mir nicht. Wahrscheinlich sollte man so die früheren Arbeitsbedingungen in Lagerhallen erfühlen können. In einer dunklen Halle waren Tische mit Nähmaschinen bestückt. Als Tano eine uns bekannte alte Singer-Nähmaschine entdeckte, spürten wir, dass diese alte Zeit noch nicht so lange vorbei ist.

Im letzten Raum war ein Wasserkanal. Man hörte, wie die Wellen an die Wände schwappten. Scheinbar konnten Schiffe zum Ein- und Ausladen direkt in die Halle fahren.

Lange hielten wir uns im Raum von Lettland auf. In einem wohnzimmerähnlichen Raum waren Tische und Regale mit Geschirr, Figuren und Kleinzeug aus glasiertem Porzellan vollgestopft. So viel Kitsch habe ich noch nie auf einmal gesehen und trotzdem – so lange wie dort haben wir uns nirgends aufgehalten und auch nirgends so viele Leute in einem Raum gesehen. Es gab aus Porzellan-Phalli zusammengesetzte Kronleuchter, Flaschen in Form von Brüsten, Teller ganz aktuell mit Malereien von Putin und Jeff Bezos, provokante verunstalteten Kreuze, Nachbildungen von Smartphones, kitschig bemalt, und und…

Wiederum war die Zeit für uns zu kurz. Aber mehr hätten wir auch nicht mehr aufgenommen. So jung sind wir auch nicht mehr.

Am dritte Tag besuchten wir die Museen in der Stadt

Punta della Dogana: Bruce Nauman

Der amerikanische Künstler Nauman probierte viele künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten aus. Im Museum Punta della Dogana sahen wir gleich beim Eingang seine Videoinstallation mit den Titel „ Contapposto Studies, I through VII“. Sie erstreckte sich über die ganze Haupthalle. Sie zeigt Männer, die im weißen T-Shirt und Jeans schwingend entlang gehen und dabei mit einem gestreckten und einen abgewinkelten Bein stehen bleiben. Erst daheim las ich, dass der Wechsel von Stand und Spielbein ein Gestaltungsmittel der Künstler in der Renaissance war z.B. bei Michelangelos’ David. Im zweite Video zeigt Nauman sich selbst in seinem Arbeitsraum wie er vor und zurück geht. Er selbst ist sozusagen das Kunstwerk.

Lange hielten wir das sich stets wiederholende Geräusch nicht aus. Erholsam war es, dass man nach oben gehen konnte, mit der herrlichen Aussicht auf San Marco und das Meer, wo sich der Canal Grande mit dem Canale della Giudecca trifft.

Palazzo Grassi am Canal Grande: Ausstellung von Marlene Dumas

Ich las, dass ihre rund hundert Bilder alle zwischen 1984 und 2021 entstanden sind. Davon 20 Porträts berühmter Homosexueller, die verfolgt wurden, wie z.B. der Schriftsteller Oscar Wilde. Ihre Hauptthemen waren Gewalt, Tod und Liebe.

Ich sah eher intime Momente. Die nackten Frauen in aufreizenden Posen sind nur mit wenigen Strichen angedeutet, fast durchsichtig mit überraschenden hellen Farben in Szene gesetzt. In einem so großen Palast, in dem an einer weißen Wand nur ein Bild hängt, wirkt es großartig. Das wäre für jeden Künstler mehr als ein Traum. Bei allen Ausstellungen, an denen ich mich beteiligen konnte, herrschte Platzmangel.

Die Biennale in Venedig 2015

1. Teil

Leere Räume

Schon nach kurzer Zeit in den „Giardini della Biennale“ hatte ich das Gefühl, dass sich immer mehr Künstler zurück nehmen, sich in leere Räume zurückziehen und die Lücke ihr Thema ist.

Der schweizer Pavillon
war ganz leer geräumt. Nur grünes Licht füllte die Räume und ließ uns grün erscheinen. Wir Besucher belebten das Haus, als wären wir Darsteller von Aliens. Eine brusthohe Mauer stoppte uns vor dem letzten Zimmer. Es war mit Wasser gefüllt, das sich sanft bewegte. Es wunderte mich nicht, dass das Wasserbecken rosafarbig war. Ich dachte, dass wir nach so viel Grün die Komplementärfarbe sähen.
Den Clou der Sache las ich erst daheim im Internet. Die Künstlerin Pamela Rosenkranz (geb. 1979) ließ das Becken mit einer rosafarbenen Flüssigkeit füllen, die den Eindruck von Haut erzeugen sollte. Für sie ist die menschliche Haut schon lange das Thema ihrer Kunst. Den angeblichen Geruch von Babyhaut, der durch das Gebäude zog, hätte ich wahrscheinlich wahrgenommen, wenn ich es gewusst hätte.

Im österreichischen Pavillon
waren die Böden und Decken schwarz. Die Wände waren weiß getüncht. Kein Bild und keine Skulptur störten das Haus. In jeden Raum stand eine weiße, längliche Bank. Ich glaube, sie waren zum Sitzen gedacht.

Im französischen Pavillon
gab es einen Raum nur zum Ausruhen. Auf den Sofa ähnlichen Liegen hätten wir bequem ein Mittagsschläfchen machen können.
Doch wir waren wegen des, in der Presse vielbesprochenen, gehenden Baumes dort. Eine große Kiefer mit einem wuchtigen Wurzel-Erdballen stand in der leeren Halle. Vergeblich warteten wir, dass sie ihre Position änderte. Erst als wir ganz nah bei ihr standen, drehte sie sich um Millimeter. Die zwei Kiefernbäume vor dem Pavillon rührten sich gar nicht.
Wieder mal las ich erst daheim, dass die Bäume sich schneller bewegen, je größer die Menschenmenge ist. Als wir dort waren, bekamen sie scheinbar zu wenig menschliche Zuwendung.
Ob die lebendigen Bäume am Ende der Biennale noch leben werden? Die Wurzelballen wurden für die großen Räder und Rechner innen stark ausgehöhlt.

Im dänischen Pavillon
war ich von der Kargheit begeistert. Fast jedes Werk hatte einen eigenen Raum. So kamen sie richtig gut zur Geltung. In einem großen Raum lag auf dem Boden, wie vergessen, eine kleine Kiste mit einem antiken Fragment.
Besonders gut gefiel mir eine mittelalterliche Marienfigur. Sie stand vor einer roten Wand. Alle anderen Wände im Pavillon waren weiß. Die Madonna war so aufgestellt, als würde sie gleich vom steinernen Löwensockel kippen. Der Kontrast zwischen dem fein geschnitzten, glatten Gesicht, dem verwurmten und stark zerklüfteten Körper und dem steinernen Sockel war stark. Noch auffälliger und gegensätzlicher waren die Titel, die der Künstler Danh Vo dem religiösen Werk und auch all seinen anderen Werken gab. Es waren ordinäre, grobe Sätze aus dem Horrorfilm „der Exorzist“, der schon zwei Jahre vor Danh Vos Geburt (geb.1975) in den Kinos lief.

Der Pavillon von Uruguay
beeindruckte mich stark. Als ich eintrat, sah ich nur einen großen, leeren, weißen Raum. Eigenartig und komisch kamen mir die Besucher vor, die, fast mit der Nase an der Wand, den Putz betrachteten. Spinnweben meinte ich zu erkennen. Erst mit meiner Brille sah ich, dass an den Wänden an die hunderttausend, winzige Scherenschnitte aus weißem Papier klebten. Drei Monate dauerte es, bis der Künstler Marco Maggi (geb. 1957 in Montevido) die Klebezettel geschnitten hatte und zwei Monate soll es gedauert haben, bis die Wände von oben bis unten beklebt waren. Die Motive sahen aus wie Statik- oder Schaltpläne. Hin und wieder standen Millimeter dünne Stege oder Punkte etwas ab, sodass der Schatten dunkle Linien und Flächen dazu zeichnete. Der Künstler nannte sein Werk „Global Myopia“, Kurzsichtigkeit. Was er damit aussagen wollte, verstand man. Wie Kurzsichtige mussten sich die Besucher auf ein Detail konzentrieren. Der Künstler schärfte den Blick für das Unsichtbare, Unbedeutende und das Kleine. Das jetzt oft gebrauchte Wort Entschleunigung fiel mir ein.

Der deutsche Pavillon
war nicht leer, aber für manche Menschen versperrt. „Kein Zutritt für Besucher mit Rollstuhl, Kinderwagen, kurzem Atem oder schweren Beinen“, stand zwar nicht am Pavillon, aber es war so.
Die Ausgeschlossenen konnten den 1939 umgebauten Prunkbau der Nationalsozialisten von außen ausgiebig betrachten. Sie konnten Ausschau halten nach der angeblichen Werkstatt auf dem Dach. Vielleicht muss man nur lange genug hochschauen um raus zu bekommen, dass sie existiert.
Wir, die Privilegierten, durften uns durch einen versteckten, seitlichen Eingang zwängen und weil wir nicht all zu dick waren, kamen wir über eine enge, hohe Treppe in den ersten Ausstellungsraum. Oben angekommen, nach Luft hechelnd, setzte ich mich erst mal. Ich ersparte mir einen Rundgang und betrachtete von meinem Sitzplatz aus die ausgestellten Zeitungsseiten.

Wieder abwärts ging es zu einem futuristischen Videoraum. Die reale Welt hatte ich nun verlassen. Zum Glück gab es in der virtuellen Welt auch noch bequeme Liegestühle. Ich konnte Puste fürs erneute Hochgehen in die Wirklichkeit sammeln. Einen Ausgang gab es unten nicht.

Den Abstieg zu einem weiteren Raum, wieder ohne Ausgang, ersparte ich mir. Von oben sah ich sowieso nur kaputte Bodenfliesen.
Die Ideen und die Absichten der Künstler waren gut, etwas zu gut. Indem sie ein zweites Stockwerk einbauten und einen Teil des Bodens einreißen ließen, verlor der Raum das Prahlerische, Bombastische.
Mit den Fotos zeigten sie, wie ernst wir Deutsche die Probleme der Flüchtlinge nehmen, und mit den Videoraum, wie topaktuell und fortschrittlich wir sind.
Zu deutlich das Motto: wir sind bescheiden, problembewusst und zukunftsweisend.

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